Bericht zum Modul „Plurale Gesellschaft – religionssensible Gesellschaft?..."
03. Dezember 2020
In der Weiterbildung „Muslimische Potenziale in der Sozialen Arbeit“, die die Nachwuchsgruppe „Islamische Theologie im Kontext: Wissenschaft und Gesellschaft“ des BIT in Kooperation mit der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und der International League of Academicians e.V. durchführt, fand am 6. und 7. November 2020 das dritte Modul statt – diesmal vollständig online. Mit diesem Modul „Plurale Gesellschaft – religionssensible Gesellschaft? Religionssensibilität als Pluralismus-Kompetenz“ sollten die rund dreizehn Teilnehmenden mit Konzepten der Religionssensibilität bekannt werden und sich mit den Herausforderungen einer religionspluralen Gesellschaft in Handlungsfeldern des Sozialen (z.B. Seelsorge, Senior*innen-Arbeit) beschäftigen. Zugleich sollten die Teilnehmenden Angebote der spezifischen muslimischen sozialen Arbeit kennen lernen und reflektieren.
Der erste Tag begann mit einem Inputvortrag und anschließendem Lehrgespräch von und mit Prof. Dr. Alexander Kenneth Nagel von der Universität Göttingen. Nagel eröffnete seinen Vortrag „Aspekte religiöser Diversität in der Migrationssozialarbeit“ mit einer eingehenden Bestimmung der Begriffe „Religion“ und „Diversität“, um anschließend ihre jeweilige Relevanz und ihren Nutzen für die soziale Arbeit darzulegen. Die religiöse Pluralisierung im Zuge der Migration der letzten zehn Jahre habe gezeigt, dass Muslim*innen in Deutschland, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überdurchschnittlich stark im ehrenamtlichen Engagement vertreten seien. Hier seien es vor allem Muslim*innen mit Gemeindeanbindung, die überproportional repräsentiert seien. Jedoch seien selbst von denjenigen, die keine Anbindung an eine Gemeinde hätten, 40 Prozent ehrenamtlich tätig. Unter den hauptamtlichen Sozialarbeitenden in Deutschland nehme die religiöse Pluralisierung aufgrund von Migration ebenfalls zu. Jedoch stellten unter den Migrant*innen nicht Muslim*innen die Mehrheit, sondern es sei vielmehr eine zunehmende innerchristliche Diversität zu beobachten. Nehme man nun die starke religiöse Pluralisierung auf der Seite der betreuten Personen hinzu, werde die Notwendigkeit einer religionssensibleren sozialen Arbeit deutlich. Hierzu gehöre allem voran, die Realität von Religion in der Lebenswelt vieler Menschen anzuerkennen und differenziert wahrzunehmen. Im Gespräch mit den Teilnehmenden ging es dann um die besondere Herausforderung, mit religiösen Geltungsansprüchen umgehen zu lernen und auch die eigenen Prägungen stets zu hinterfragen.
Nach der Mittagspause zeigte Dr. Aydın Süer vom BIT in seinem Vortrag „(Antimuslimischer) Rassismus in der sozialen Arbeit“ anhand verschiedener wissenschaftlicher Studien, wie rassistische Deutungsmuster auch und gerade in der sozialen Arbeit immer wieder reproduziert und festgeschrieben werden. Dies liege unter anderem daran, dass gesamtgesellschaftlich verbreitete Stereotype natürlich auch in die soziale Arbeit hineinwirkten und dort oft unhinterfragt übernommen würden. Daraus ergebe sich eine Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität, die ethnische, kulturelle und religiöse Pluralität häufig als Abweichung von der Norm begreife. Folglich würden in der sozialen Arbeit Rassismuserfahrungen von Adressat*innen nicht genügend thematisiert oder gar ernst genommen. Auch die Benachteiligung muslimischer Sozialarbeitender sei kein selten anzutreffendes Phänomen.
Am späten Nachmittag widmete sich Deniz Greschner von der Universität Osnabrück in ihrem Vortrag „Soziale Arbeit mit und für Muslim*innen“ allgemein der muslimischen Wohlfahrtspflege sowie, daran anknüpfend, speziell der muslimischen Jugendarbeit und Jugendhilfe. Greschner erläuterte gesetzliche Grundlagen, nach denen ausdrücklich eine Trägerpluralität vorgesehen ist, die die gesellschaftliche und damit auch religiöse Vielfalt widerspiegeln müsse. Angesichts der sich verändernden muslimischen Organisationslandschaft und der Tatsache, dass unter muslimischen Jugendlichen Religion eine überdurchschnittlich hohe Bedeutung besitze, nehme auch die Bedeutung muslimischer Jugendarbeit und Jugendhilfe in Deutschland stetig zu. Die in vielen Bereichen noch nicht vollzogene Professionalisierung stelle die Muslim*innen jedoch immer noch vor große Herausforderungen. Doch auch die gesetzlichen Anforderungen müssten in Hinblick auf eine Minderheit neu überdacht werden. Greschners Systemkritik fokussierte insbesondere die hohen Hürden für die selbstorganisierte Jugendarbeit, die gesetzlich auf eine breite Mehrheit ausgelegt sei und nicht auf Gruppen, die schon rein zahlenmäßig die Erwartungen nicht erfüllen könnten.
Am Vormittag des zweiten Tages führte Imran Sagir vom Muslimischen Seelsorgetelefon (MuTes) in Berlin zunächst in die Prinzipien islamischer Seelsorge ein. Zwar stamme der Begriff „Seelsorge“ aus der christlichen Tradition. Gleichwohl bedeute dies nicht, dass es dafür nicht auch eine islamische Grundlage gebe. Hier führte Sagir verschiedene theologische Argumente an, die ein islamisches Verständnis von Fürsorge aufzeigten und deren Grundsätze im Einzelnen ausformulierten. Als ein bewährtes Beispiel islamischer Seelsorge stellte Sagir im Anschluss das seit 2009 aktive Muslimische Seelsorgetelefon, dessen Arbeitsweisen und konkrete Dienste vor. Insbesondere ging er auf die Praxis des Beratens und Helfens in Krisen- und Notsituationen ein und legte dar, dass MuTes keine Fatwa-Hotline sei.
Um das bisher Gehörte und Erlernte zu reflektieren und Raum für den inneren Dialog mit den eigenen Erfahrungen zu ermöglichen, wurde nach der Mittagspause eine einstündige Reflexionsrunde anberaumt. Die Teilnehmenden nahmen die Reflexionsrunde rege an und tauschten sich über konkrete Anknüpfungspunkte für ihre weitergehende Arbeit aus.
Zum Abschluss des Moduls stellte Büşra Önay, Gerontologin und assoziiertes Mitglied der NWG, umfassend das Themenfeld „Muslimische Senior*innen“ dar. Sie begann ihren Vortrag „Alter(n) von Muslim*innen“ ebenfalls mit einer Begriffsbestimmung, anhand derer sie den Teilnehmenden die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von „Alter“ und, damit verbunden, die verschiedenen Herangehensweisen an das Thema veranschaulichte. Im weiteren Verlauf ging sie konkret auf ältere Muslim*innen ein und diskutierte die Zielgruppen, Merkmale und Funktionen muslimischer sozialer Altenarbeit in Deutschland. Hier stellte sie verschiedene Fallbeispiele und bereits bestehende Angebote vor, die nicht nur die Effekte muslimischer Religiosität, sondern auch die spezifischen Herausforderungen und Ressourcen muslimischer Altenarbeit verdeutlichten.
Mit diesem Modul enden die unter Verantwortung von Dr. Ayse Almila Akca stehenden Module 3 und 4 der gesamten Weiterbildung. Das nächste Modul findet im Dezember 2020 zum Thema „Seelische Gesundheit“ statt, bevor mit dem abschließenden Modul 6 im Februar 2021 zum einen die Entwicklungen in den akademischen Theologien und zum anderen die Chancen in muslimischen Gemeinden ausgelotet werden sollen.
Bericht: Aydın Süer/Ayşe Almıla Akca