Humboldt-Universität zu Berlin - Berliner Institut für Islamische Theologie

Warum Praxis?

Was bedeutet "Praxis"?

Wir arbeiten in unseren Forschungsvorhaben mit dem Praxisbegriff verschiedener soziologischer Praxistheorien. Unser Blick richtet sich also primär auf Aktivitäten bzw. Praktiken. Vereinfacht ausgedrückt, meinen wir damit das, was Menschen tun, sagen, empfinden und denken. Dabei gehen wir von dem Grundgedanken aus, dass Kategorien wie Gesellschaft, aber auch Religion oder Spiritualität, mithilfe eben solcher Praktiken erzeugt werden und nicht unabhängig von ihnen existieren. Für unseren Untersuchungsgegenstand Islam heißt dies nun, dass auch dieser gleichermaßen im Vollzug einer Praktik oder genauer: im Zusammenspiel verschiedener Praktiken hervorgebracht wird – nämlich in solchen, die aufgrund ihrer spezifischen Konstellation islamische Bedeutungsräume eröffnen.

Dadurch, dass wir Abstand nehmen von einem vordefinierten Religionsbegriff und darauf schauen, wie sich speziell der Islam in der Praxis konstituiert, erweitern wir gewissermaßen die Grenzen des Religiösen. Denn auf diese Weise geraten auch Praktiken ins Blickfeld, die vielleicht auf Anhieb nicht als religiöse bzw. islamische erkennbar sind. Praktiken sind zeit-, raum- und situationsabhängig und folgen ganz eigenständigen Logiken. Die analytischen Werkzeuge der Praxistheorien geben uns daher die Möglichkeit, diese Logiken empirisch zu erschließen, ohne unsere Vorverständnisse von Religion oder Islam in sie hineinzulesen. Aspekte wie Körperlichkeit, Materialität oder praktisches Know-how rücken damit in den Vordergrund. Denn häufig werden religiöse Praktiken von den Beteiligten nicht rational begründet. Wir haben es also nicht mit der Umsetzung bewusst reflektierter religiöser Normen oder Regeln zu tun, sondern vielmehr mit praktisch eingeübten Verhaltensweisen, die ein implizites Wissen voraussetzen und als gekonnte Bewegungen und Gesten zum Vorschein kommen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch reflektierte Formen der Religiosität gibt. Nach unserem Verständnis werden aber auch sie durch bestimmte Praktiken – wie etwa des Lesens, des Diskutierens, des Predigens usw. – hergestellt.

 

Warum ist der Fokus auf Praxis wichtig?

Die praxistheoretische Betrachtungsweise ermöglicht es uns, Facetten des Islamischen sichtbar zu machen, die man mit einem rein textuellen oder glaubenszentrierten Verständnis von Religion schlicht aus den Augen verlieren würde. Religiöses Leben ist so vielfältig und komplex, dass auch seine Erforschung dem gerecht werden muss. Generalisierungen oder gar essentialistische Auffassungen vom Islam stoßen da oft an Grenzen. Praxis ist nämlich nicht nur die mehr oder weniger erfolgreiche Anwendung von normativem Wissen. Mit Kategorien wie etwa ḥalāl und ḥarām allein ist sie nicht zu verstehen. Ihre Untersuchung bedarf einer Begrifflichkeit, die den performativen Charakter des Islamischen anvisiert und konzeptionell ausarbeitet.

In unseren Forschungen spielen Korporalität, Materialität, Performativität und Lokalität als grundlegende praxistheoretische Konzepte im unterschiedlichem Maße eine Rolle.

Körper: Praktiken werden von menschlichen Körpern ausgeführt. Das stellt den Körper, seine Bewegungen, Sprechakte, Emotionen und Verfasstheiten in den Mittelpunkt von Praktiken. Durch Erfahrung speichert sich im menschlichen Körper das Wissen darum, wie sich eine Praktik im entsprechenden Moment zu vollziehen hat. Praktisches Wissen wird gleichsam in den Körper eingeschrieben, und zwar sowohl mithilfe expliziter pädagogischer Interventionen als auch implizit durch stille Pädagogik, Nachahmung und Aneignung. In diesem Zusammenhang dienen uns Konzepte wie Habitus, Sozialisation, Routine und Improvisation als wichtige analytische Kategorien. Verkörpertes Wissen ist demnach nicht gleichzusetzen mit individuellen Charaktereigenschaften oder einmaligen punktuellen Ereignissen. Es ist als zeit- und personenübergreifendes sozial geteiltes Wissen zu analysieren.

Materialität: Praxistheoretische Perspektiven auf Religion heben deren materielle Dimension ausdrücklich hervor. Körperliches Tun vollzieht sich immer auch unter Einbezug von Objekten, zumal Objekte zu bestimmten Aktivitäten auffordern und damit konkrete Praktiken ermöglichen. Umgekehrt sind es erst die Praktiken, die mit darüber bestimmen, welche Wirkungen Objekte entfalten können. Materialität ist damit ein konstitutives Element in der Herstellung und Reproduktion auch von Religion als praktischem Vollzug.

Raum: Praktiken ereignen sich in Räumen (spaces), zeichnen sich also im Wesentlichen durch ihre Räumlichkeit aus. Diese umfasst zum einen konkrete lokale Orte, die eine materielle Form besitzen, sowie translokale Orte, die eben nicht auf einen Ort festgelegt sind. Zum anderen wird ein abstraktes Verständnis von Raum in den Fokus gerückt, nämlich diskursive Räume, die durch die Wechselwirkung zwischen Struktur, Diskurs und Praktiken hergestellt werden. Für Praktiken heißt dies, dass sie ebenso auf einen Raum einwirken, wie sie von diesem beeinflusst werden. Auf diese Weise erst werden etwa (nicht-)religiöse bzw. (nicht-)sakrale Räume erzeugt. In unserer Konzeption ist Raum also nicht einfach ein Hintergrund, vor dem sich die Dinge abspielen, sondern vielmehr ein soziales Produkt, das im fortlaufendem Wechselverhältnis von Raum und Praktiken entsteht.

 

Welche Methoden eignen sich dazu, Praxis zu untersuchen?

Praxistheoretische Konzeptionen des Handelns setzen nicht – wie andere Handlungstheorien es tun – beim autonomen Subjekt an, sondern beschreiben eher, inwieweit soziale Praktiken subjektivierende Wirkungen haben. Ihr Ausgangspunkt sind also die Praktiken selbst, an denen der oder die Einzelne teilhat und aus denen er oder sie beispielsweise als muslimisches Subjekt hervorgeht. Der methodologische Fokus richtet sich deshalb auf die spezifische Beschaffenheit eben solcher Praktiken. Wichtigstes Werkzeug ist dabei die Beobachtung. Dazu zählen neben der teilnehmenden Beobachtung auch Methoden wie die Situationsanalyse, die Raum- und Materialitätsanalyse, aber natürlich auch Interviews und Feldgespräche. Diskursanalytische Verfahren sowie die Auswertung von Dokumenten, Bildern, Filmen und Fotos eignen sich ebenfalls für praxistheoretische Fragestellungen. Die Ethnographie als methodologisches Forschungsprogramm eignet sich besonders gut für praxistheoretische Forschung, da mit ihr die gesellschaftliche Situiertheit von Praxen besonders gut einbetten und untersuchen lassen.

In unseren einzelnen Forschungsvorhaben gehen wir empirisch und in erster Linie gegenwartsbezogen vor, ohne jedoch die historischen und ideengeschichtlichen Dimensionen der jeweiligen Untersuchungsgegenstände zu vernachlässigen. Wir identifizieren und lokalisieren die unterschiedlichen Formen, Relationen und Verkettungen von Praktiken als religiöse Praktiken.

 

Worin unterscheidet sich dieser Zugang von anderen Ansätzen in der islamischen Theologie?

Die islamische Theologie in Deutschland befasst sich heute primär mit textlichen Quellen, religionspädagogischen Konzepten sowie historischer und gegenwartsbezogener islamischer Ideengeschichte. Die (religiöse) Praxis spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle und wird, so sie denn überhaupt Aufmerksamkeit bekommt, meistens als bloße Umsetzung von Normen oder als Anwendungsfeld theologischen Wissens verstanden. Wir wollen aber mit der Betonung der Praxis als eigenständigen Forschungsgegenstand auch die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie die Praxis Normen generiert und Werte hervorbringt. Damit setzen wir nicht zuerst die Idee, die Theorie oder eine Norm an den Anfang unserer Überlegungen über eine bestimmte Praxis. Unsere Nachwuchsgruppe hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, den Islam aus der praktischen Dimension heraus zu beleuchten.

 

Wo genau liegen die Anschlussfähigkeit und die Relevanz für die islamische Theologie?

Die Nachwuchsforschungsgruppe möchte die islamische Theologie stärker für die performativen Momente des Religiösen sensibilisieren und praxistheoretische Zugänge damit zum Gegenstand auch theologischer Reflexion machen. Ziel ist es, Praxis, so wie wir sie definieren, konzeptionell in die Wissensbestände und Methoden islamisch-theologischer Studien zu integrieren. Mithin strebt die NWG also eine interdisziplinäre Fundierung der islamischen Theologie in Deutschland an. Ihre konkreten Forschungsdesigns und Fragestellungen versteht sie jedoch auch als Beitrag zu übergreifenden Diskussionen in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt. Ferner sollen die Erkenntnisse, die unsere Arbeit generiert, in verschiedene gesellschaftlich relevante Anwendungsbereiche hineinwirken (z.B. Bildungssektor, Bereiche der Praktischen Theologie, Religionspädagogik, Soziale Arbeit, Sozialethik).